Die Zahl der Unfälle bei älteren Menschen steigt. Einmal dadurch, dass es einfach immer mehr ältere Menschen gibt, die auch körperlich noch sehr aktiv sind und Sport treiben. Aber auch, weil Menschen mit zunehmendem Alter aus vielerlei Gründen ein höheres Risiko haben zu stürzen. Das müssen nicht immer körperliche Gründe sein, auch im Alter potenziell ungünstige Medikamente können die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes erhöhen. Durch alterstypische Knochenabbauprozesse, wie die Osteoporose, erhöht sich darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass aus einem Sturzereignis ein Knochenbruch resultiert. Auch die sich anschließende Krankenhausbehandlung birgt für ältere Menschen ganz andere Risiken als für jüngere Patienten.
Ältere Menschen brauchen deshalb in der Regel eine auf die besonderen Herausforderungen im Alter zugeschnittene Medizin, wenn sie im Krankenhaus behandelt werden. Das ist leider in den meisten Kliniken nicht so selbstverständlich, wie man meinen könnte. In Gronau treffen sich deshalb Unfallchirurgie und Geriatrie in einer ungewöhnlichen Kooperation, um ihre betagten Patienten interdisziplinär zu deren Wohl gemeinsam zu behandeln. Das Besondere daran: Die beiden Fachgebiete gehören zu zwei verschiedenen Krankenhäusern – das St. Antonius-Hospital und das Lukas-Krankenhaus arbeiten hier Hand in Hand zusammen.
„Wir haben die Alterstraumatologie nicht erfunden“, sagt Geriatrie-Chefarzt Stefan Rittmeyer vom Lukas-Krankenhaus: „Die Idee einer gemeinsamen Behandlung durch den Chirurgen und den Altersmediziner gibt es schon länger. Sie wird leider bisher nur in wenigen Einrichtungen, dafür aber überaus erfolgreich für die betroffenen Patienten, praktiziert. Für den Patientennutzen gibt es mittlerweile zahllose, auch eindrucksvolle wissenschaftliche Belege. Dass Alterstraumatologie aber trägerübergreifend von zwei Krankenhäusern in Kooperation angeboten wird, das ist doch eher die Ausnahme“. Die Alterstraumatologie behandelt betagte Unfallopfer nicht nur nach den sehr gut etablierten chirurgischen Standards, sondern berücksichtigt gleichzeitig immer auch altersmedizinische Aspekte. „Wir erzielen mit dieser Kooperation wesentlich bessere Behandlungserfolge für unsere Patienten. Unsere eigentliche chirurgische Arbeit wird dadurch erheblich entlastet“, bekräftigt Dr. Richard Buchen, Chefarzt der Klinik für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie am St. Antonius-Hospital Gronau.
Was genau kann ein Geriater leisten in der Alterstraumatologie? „Er kann natürlich kein gebrochenes Bein heilen“, sagt Stefan Rittmeyer. „Aber er kann den Chirurgen dabei unterstützen, Risiken für Komplikationen seiner Patienten zu erkennen, die durch die Verletzung, die Verletzungsfolgen oder deren Behandlung und nicht selten auch durch ungünstige Medikamente entstehen können und er kann dem Chirurgen vorbeugende Maßnahmen empfehlen. Eine häufige und in seinen Auswirkungen meist unterschätzte Komplikation ist zum Beispiel die Verwirrtheit nach einem operativen Eingriff, die sich oft durch einfache Maßnahmen vermeiden oder behandeln lässt.“
In der Geriatrie werden Risikopatienten durch sogenannte Assessments erfasst. Ein solches geriatrisches Assessment wird jetzt im Rahmen der alterstraumatologischen Zusammenarbeit auch bei allen unfallchirurgischen Patienten, die 70 Jahre oder älter sind, im St. Antonius-Hospital durchgeführt. Dr. Richard Buchen: „Wenn in der Unfallchirurgie ein geriatrischer Risikopatient durch unser Assessment erkannt wird, bekommt die Geriatrie im Lukas-Krankenhaus umgehend eine Mitteilung. Innerhalb von 24 Stunden nimmt die Geriatrie dann Kontakt mit uns auf und gibt uns Ratschläge zur Behandlung nach geriatrischen Standards, um Komplikationen vorzubeugen. Bei Bedarf kommt kurzfristig auch ein Geriater zu uns – unsere Häuser liegen ja keine zwei Kilometer voneinander entfernt.“
„Das ist für beide Seiten sehr arbeits- und personalintensiv“, sagt der Chirurg, „das St. Antonius- Hospital hat dafür eigens Mitarbeiterinnen eingestellt und in der Durchführung des Assessments geriatrisch schulen lassen.“ Hinzu kommt, dass die Mediziner die Standards und Vorgehensweisen – manchmal sogar die Sprache der jeweils anderen Fachrichtung – kennenlernen mussten. „Oftmals,“ so Dr. Buchen, „hat der geriatrische Blick auf unsere Patienten auch gewohnte Arbeitsabläufe bei uns Chirurgen verändert.“
Jeden Mittwochmorgen treffen sich jetzt die Chirurgen und die Altersmediziner zur Besprechung der alterstraumatologischen Patienten zu einer gemeinsamen Teamsitzung im St. Antonius-Hospital, an der auch Mitarbeiter aus Pflege, Sozialdienst und Physiotherapie teilnehmen. Diese werden sogleich auch im alterstraumatologischen Register aufgenommen. Im Anschluss begleitet der Altersmediziner seine chirurgischen Kollegen bei der Visite auf den Stationen. Mittags ist es dann umgekehrt, der Unfallchirurg besucht die Teambesprechung im Lukas-Krankenhaus und visitiert „seine“ Patienten, die sich immer sehr freuen, wenn ihr Arzt aus dem St. Antonius-Hospital plötzlich dort auftaucht.
Entstanden ist die außergewöhnliche Kooperation, als Dr. Richard Buchen vor drei Jahren nach Gronau kam. Die beiden Mediziner trafen sich zum Kennenlernen bei einem gemeinsamen Essen und verstanden sich auf Anhieb gut. Beide treibt der Gedanke an, bei der Behandlung stets das Beste für ihre Patienten erreichen zu wollen. Ende vergangenen Jahres schließlich kam der Entschluss, ihre Ideen und ihr Engagement für eine bessere Versorgung der älteren Patienten gemeinsam in Form eines Zentrums für Alterstraumatologie umzusetzen. Im März 2017 starteten dann die gegenseitigen Besuche und Visiten der jeweiligen Teams. „Alle Mitarbeiter zu motivieren neue Wege zu gehen, das ist nicht immer einfach. Aber hier hat es toll geklappt. In beiden Teams stößt die Zusammenarbeit auf große Zustimmung. Da passiert viel Wissenstransfer und wir lernen unglaublich viel voneinander,“ sagen die beteiligten Mitarbeiter/-innen.
Ein wirtschaftliches Interesse, das betonen die Mediziner, steht nicht hinter ihrer Kooperation. Die Mehrarbeit, die für die beiden Abteilungen durch ihre Bemühungen entsteht, wird von den Kostenträgern ohnehin nicht vergütet. „Uns geht es um eine Verbesserung der Behandlungsqualität. Damit wir das erreichen können, sind wir auf einer Linie mit den Fachgesellschaften für Unfallchirurgie (DGU) und für Geriatrie,“ betonen die verantwortlichen Mediziner. Als nächstes streben die beiden Häuser eine Zertifizierung ihres gemeinsamen Projektes als Alterstraumatologisches Zentrum an.